Für den Cicero habe ich gemeinsam mit Laura Schieritz einen Gastbeitrag unter dem Titel „Das Geschlecht, die Verfassung und wir“ ausgearbeitet. Er erschien am 19. Juli 2020.
Das Geschlecht, die Verfassung und wir
Unsere Parlamente sollen die Gesellschaft abbilden. Eine hehre Zielsetzung, an der sie seit jeher scheitern: Zu viele Männer, zu viele Studierte, zu viele Alte – die Liste könnte man um eine ganze Reihe von Kategorien ergänzen. Die Lösung des Problems liegt auf der Hand: Wir überlassen die Wahl nicht mehr den Bürgerinnen und Bürgern, sondern quotieren die Abgeordneten anhand von persönlichen Eigenschaften vor. Das sichert Repräsentation – und ist der Ausgangsgedanke für die Paritätsgesetze. Brandenburg hat es, Thüringen hat es für kurze Zeit gehabt und der Bund soll es noch bekommen.
Doch was gut gemeint ist, ist zugleich brandgefährlich. Wer die Wählbarkeit seiner Mitmenschen von ihrem Geschlecht abhängig macht, legt damit die Axt an historisch errungene Prinzipien. Das in unserer Verfassung garantierte Recht auf freie und gleiche Wahl wird unter dem Banner der Gleichstellung ausgehebelt.
Echte Chancengerechtigkeit schlägt verordnete Ergebnisgleichheit
Wir jedenfalls wollen nicht primär aufgrund von Eigenschaften gewählt und bewertet werden, auf die wir keinen Einfluss haben. Das Geschlecht, das Alter und die Ethnie gehören dazu. Das unserer Verfassung zugrunde liegende Verständnis von Repräsentation geht auch gar nicht davon aus, dass Männer nur von Männern und Frauen nur von Frauen vertreten werden können. Genauso, wie im Übrigen nicht nur eine weibliche Richterin über eine weibliche Angeklagte entscheiden darf oder vice versa. Das Individuum ist der Ausgangspunkt, der einzelne Mensch ist Grund und Grenze der Politik. Nicht die Gruppe, nicht das Kollektiv.
Eine Auffassung, die der Thüringische Verfassungsgerichtshof bestätigt hat, als er am vergangenen Mittwoch das dortige Paritätsgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärte.
Heilige Kühe soll man nicht schlachten
Nun sind Streitigkeiten vor Verfassungsgerichten selten unpolitisch. Die Bewertung der Urteile kann am Essenstisch wie im Parlament durchaus entzweien. Während wir das thüringische Urteil begrüßen, mögen andere es als Skandal empfinden. In unserer offenen Gesellschaft ist das legitim.
Doch so stark man auch inhaltliche und sachbezogene Kritik äußern kann und muss, so darf man niemals dem Reflex unterliegen, die Verfassung oder das Verfassungsgericht zu delegitimieren. Wer das tut, legt ohne jede Not die Axt an den Minimalkonsens unseres Rechtsstaats. Eine fatale Entwicklung, die uns allen auf die Füße fallen kann.
Justitia ist blind
Wenn Verfechterinnen und Verfechter des Paritätsgesetzes also öffentlich bedauern, dass der Verfassungsgerichtshof das Gesetz nicht gegen „Angriffe“ der AfD verteidigt habe, so offenbaren sie ein erschreckendes Verständnis von Gewaltenteilung. Verfassungsgerichte sind nicht der verlängerte Arm einer Regierung. Es ist nicht ihre Aufgabe, Gesetze und Regierungsprojekte zu verteidigen.
Dabei wollen wir gar nicht verhehlen: Ja, auch für uns als Liberale ist es unerträglich, dass in Thüringen nur die AfD den Rechtsweg gegen ein verfassungswidriges Gesetz bestritten hat. In unserer Heimat Brandenburg machen wir es anders; dort sind Junge Liberale, Piratenpartei und auch einzelne Bürgerinnen und Bürger gegen das Paritätsgesetz aktiv. Welche politische Gruppierung klagt, darf rechtlich jedoch keine Rolle spielen. Justitia ist schließlich blind. Gerichte bewerten auf Basis des Rechts, nicht nach Ansehen der Person. Und das muss auch so bleiben.
Wenn der Verfassungsgerichtshof also ein Gesetz für nichtig erklärt, weil es Grundrechte verletzt, so spielt nicht er das Spiel der Populisten, sondern all jene, die überhaupt erst – gegen alle Warnungen und Bedenken der unabhängigen wissenschaftlichen Dienste der Parlamente – verfassungswidrige Gesetze auf den Weg bringen.
Was zu tun bleibt
Jeder Mensch bringt durch seinen individuellen Hintergrund wertvolle Perspektiven in die politische Debatte ein. Repräsentationsdefizite muss man daher auch hinterfragen, wenn man Paritätsgesetze ablehnt. Viele Strukturen in Parlamenten und Parteien haben sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert und schrecken Frauen, aber auch junge Menschen, Nichtakademiker oder Menschen mit Migrationshintergrund ab.
Die Parteien sollten die Mitgliederermutigung und -entwicklung, eine respektvolle und partizipative Atmosphäre sowie Kampagnen mit Vorbildern aus der gesamten Gesellschaft stärker als Chance begreifen und vorantreiben. Gleichberechtigung braucht echtes Empowerment statt starr vorgegebener 50/50-Schablonen.
19. Juli 2020