Matti Karstedt: ZEIT: Die neue Ostpolitik

ZEIT: Die neue Ostpolitik

Einige, die nach 1989 geboren sind, werden nach den Landtagswahlen auch in den Parlamenten mitmischen. Aber nicht alle wollen ihre Identität zum Thema machen.

Fragt man den jungen FDP-Politiker Matti Karstedt nach seiner Ost-Identität, dann erzählt er von seinem Vater, der 1989 als Niederlausitzer Malermeister in den Westen flüchtete. Der sich, während sein altes Land zusammenbrach, in Süddeutschland als Kellner und Fliesenleger durchschlug, bis er dort eine Frau kennenlernte, die – wie er – Brandenburg verlassen hatte. Die beiden kehrten gemeinsam zurück und wurden glücklich.

Karstedt, 22, ist Spitzenkandidat der Jungen Liberalen zur Brandenburger Landtagswahl, er steht auf Listenplatz 4 der FDP. Er hat gute Chancen, am 1. September ins Parlament einzuziehen. Und er will dort über Ostdeutschland sprechen, seine Herkunft, seine Heimat. Karstedt gehört zu einer Generation junger Politiker, die mit einem neuen Bewusstsein von ihrer Identität Politik machen möchte: indem sie betont, woher sie stammt, statt es zu verschweigen. Die jungen Ostdeutschen, so sieht das Karstedt, betrachten diese Region, in der sie aufgewachsen sind, selbstverständlich als Teil der eigenen Geschichte – mit all ihren Problemen. Aber birgt das auch politisches Potenzial?

Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung fand neulich heraus, dass nur ein Drittel der Ostdeutschen Millennials – also derjenigen, die heute zwischen 18 und 30 Jahre alt sind – der Meinung ist, es mache keinen Unterschied mehr, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stamme. Jeder Dritte dieser Generation im Osten fühlt sich sogar „sehr stark“ mit dem Osten verbunden; im Westen ist ein vergleichbares Gefühl deutlich weniger messbar.

Der Osten, der Umgang mit den fünf neuen Bundesländern, ist also ein politisches Thema, auch für Jüngere. Die Frage ist, was man daraus macht.

Karstedt und seine Jungen Liberalen haben versucht, eine Kampagne darauf aufzubauen; deren Titel: „Mutdeutschland“. Denn ostdeutsch sein, das bedeute für junge Politiker eben gerade dies: Mut zu beweisen. Warum?

„Weil es ein Wagnis ist“, sagt Karstedt.

Er erzählt von den Wahlkampfwochen. Es seien, sagt er, die immer gleichen Sätze, die er zu hören bekomme, meist von Bürgern, die deutlich älter seien als er. Etwa diesen: „Dass ein 1996 Geborener heute noch von Ost und West schwafelt!“ Matti Karstedt antwortet dann immer: „1989 wurden nun mal nicht die Himmelsrichtungen abgeschafft.“ Und auch nicht die Unterschiede.

Es gibt eine Sache, die macht ihn wütend: „Warum kann sich der Norddeutsche als norddeutsch positionieren – und wir müssen uns schämen?“

Er glaubt, es liege daran, dass sich früher kaum einer getraut habe, für den Osten einzustehen, sagt Karstedt. „Der Generation vor uns wurde eingeredet, dass der Osten vor allem abgehängt sei. Viele aus dieser Generation haben das geglaubt.“ Und wer wolle sich denn dann als „ostdeutsch“ hinstellen, wenn das nur als Nachteil empfunden werde? Sich freiwillig als Abgehängter positionieren?

Karstedt sagt, als Ossi bekenne sich nur der, der das nicht als Problem sehe. Und sich nicht mehr als makelbehaftet zu betrachten, das sei eine Tugend, die die Nachwende-Jugend des Ostens auszeichne.

Ohne Risiko sei das nicht. „Sich den Osten auf die Fahnen zu schreiben, das ist gefährlich – weil der Osten natürlich nicht nur für positive Dinge steht“, sagt er. Verklärt man ihn, seine Probleme, wenn man allzu stolz damit umgeht?

Lilly Blaudszun, 18 Jahre alt und Vorstandsmitglied der SPD-Jugendorganisation Jusos in Mecklenburg-Vorpommern, findet, dass man gar nicht genug über Osten und Westen sprechen könne. Das, was ihre Generation tun könne, sei, den „Westen in die Pflicht zu nehmen“, sagt sie – es geht ihr also auch um eine Gerechtigkeitsfrage. Eigentlich, findet Blaudszun, solle das „das Fundament der Arbeit aller ostdeutschen Politiker“ sein. Denn es sei in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig Politik gemacht worden, die gleichwertige Lebensverhältnisse schaffe.

Auch auf der politisch anderen Seite nutzen junge Ostdeutsche solche Argumente: Stefan Gruhner, Vorsitzender der Jungen Union (JU) Thüringen, kandidierte im vergangenen Jahr für den Bundesvorsitz der JU – ausdrücklich mit dem Argument, dass „im Osten über die Zukunft der Demokratie“ verhandelt werde, dass der Osten jetzt eine besondere Aufmerksamkeit benötige. Durchsetzen konnte er sich dann zwar nicht. Die Aufmerksamkeit für seine Kandidatur allerdings war enorm.

Es ist natürlich nicht so, dass alle, die jung und ostdeutsch sind, damit Politik machen wollen. Oder auch nur etwas damit anfangen könnten. Dass ostdeutsche Herkunft als Thema umstritten ist, keine einfach zu diskutierende Frage – das beweisen jene, die sich wehren, wenn sie von einer Identität vereinnahmt werden sollen, die sie gar nicht als die ihre empfinden.

Valentin Lippmann zum Beispiel, 28 Jahre alt, ist ein Grüner aus Sachsen, der sich mit Innenpolitik beschäftigt und jetzt schon seine zweite Legislatur im Landtag anstrebt. Im Parlament ist er einer der engagiertesten Gegner von Sachsens neuem Polizeigesetz, er hat sich einige Prominenz als Fachpolitiker erarbeitet. Vor einer Weile dann kam Lippmann in seinem Podcast auf die Ost-West-Debatte zu sprechen; er sagte: „Ach, das ist ’ne Diskussion, die mich persönlich wenig anhebt.“ Er beteilige sich daran nicht.

Warum ist das so?

Anruf bei Lippmann, der wenig Zeit hat: Wahlkampfstress! Die sächsischen Grünen könnten zur Landtagswahl ihr vormaliges Ergebnis auf rund zehn Prozent verdoppeln, das wollen sie tun. Gut möglich, dass sie in der nächsten Regierung mitmischen. Warum finden die jungen Ostdeutschen in einem Shootingstar ihrer Generation wie Lippmann keinen Mitstreiter?

„Ich spreche niemandem ab, dass er so ein Gefühl entwickeln kann“, sagt Lippmann. Er habe Verständnis, wenn andere Politiker seiner Generation jetzt im Namen des Ostens in den Wahlkampf zögen.

Er persönlich könne das nicht – einfach weil er sich nicht als Ostdeutscher fühle. „Mein Werteverständnis macht nicht an Landesgrenzen halt“, sagt er. „Offene Grenzen, freie Reisemöglichkeiten – Europa prägt mich weit mehr als der Osten.“

Dieser Text erschien in der ZEIT.


12. August 2019

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